Liebe Kinder, ehe wir Euch demnächst in Dresden besuchen, sollt Ihr ein Lebenszeichen von uns erhalten. Wir nehmen an, dass es Euch ungemein beruhigt, uns ganz harmonisch lebend im idyllischen Jabel zu wissen, wo uns kein Wässerchen den Lebensabend trüben kann.

Leseprobe: „Der Fleck“


Jabel, Mai 2003

Liebe Kinder,

ehe wir Euch demnächst in Dresden besuchen, sollt Ihr ein Lebenszeichen von uns erhalten.
Wir nehmen an, dass es Euch ungemein beruhigt, uns ganz harmonisch lebend im idyllischen Jabel zu wissen, wo uns kein Wässerchen den Lebensabend trüben kann.
Ich kann vermelden, dass Opa in seinem – Gott sei Dank – überaus langsam verlaufenden Alterungsprozess mit genauso langwierig anhaltender Zähigkeit immer einfühlsamer wird für alle schönen Dinge des Lebens.
Mit allem, was mir ans Herz gewachsen ist, Vasen, Pflanzen, Nippes aus dem Setzkasten, Deckchen, Kosmetik und gutem Geschirr ist er ehrlich bemüht, gut umzugehen, ehe es aus unerklärlichen Gründen verschwindet, verwelkt oder wegen Unansehnlichkeit aus dem Gebrauch gezogen werden muss.

Wir haben in diesem Jahr einen schönen Mai. Die Sonne hat uns schon gebräunt, aber es regnet auch oft genug, so dass Opa bisher um den grundsätzlichen Existenzkampf mit seiner anfälligen Beregnungs-Pumpe noch herum gekommen ist.
Also bastelt er auf seine Weise an unseren fünf Fahrrädern aus den letzten drei Gesellschaftssystemen herum und freut sich kindisch über seine Entdeckungen unterschiedlich geprägter deutscher Wertarbeit.

Und ich? – Na, ja.
Neulich betrachtete ich wieder verzückt meine Naturholzmöbel und blickte ergriffen in meine in der Dämmerung schon eingeschaltete handgearbeitete Korblampe über dem Tisch. Auf diesem steckte in einer IKEA-Vase eine einzelne übergroße Tulpe.
Wunderschön!
„Wir machen es uns bei einem schönen Wein und Kerzenlicht nachher richtig gemütlich und ich ziehe auch mein schönes langes Abendkleid für dich an“, versprach ich Opa voller Vorfreude.

Als Opa seine Garten- und Bastelbestecke in den Schuppen räumte und ich schon herausgeputzt und erwartungsvoll im Sessel saß, fiel mein Blick ungünstigerweise auf einen großen dunklen Fleck auf unserem braun-beige gemusterten Teppich.
Elektrisiert sprang ich auf und besah mir das Malheur.
Den Zusammenhang ahnte ich sofort!
Mit der Schüssel und dem darin enthaltenen Reinigungsmittel stürzte ich gleich darauf beinahe auf dem Flur hin, weil ich mir selbst vorne auf das lange Kleid getreten war. Es schwappte aber nur Wasser aus, das ich später aufwischen würde.
Ich rieb am Boden kniend auf dem Fleck herum, nahm sogar eine Handbürste zu Hilfe.
Die Verschmutzung blieb!
Da fiel mir das Sil-Präparat ein, das von Eurem Urlaub hier geblieben war. Ich setzte den Fleck unter Schaum und wurde das Gefühl nicht los, dass sich auch Schaum an meinem Mund bildete.

Erwartungsfroh erschien jetzt Opa von draußen und trampelte das verschüttete Wasser breit. Einfühlsam, wie ich ihn eingangs beschrieb, stutzte er plötzlich.

Da richtete ich auch schon meine konkreten, sachbezogenen Fragen an ihn:

„Hast du hier etwa Öl ausgegossen? Was ist das für ein Dreck? Sag bloß, du hast hier in der Stube Schuhe geputzt oder Fahrradteile hingelegt? Ich kenne dich doch! Kleine Kinder machen abwaschbaren Schmutz, deiner ist echt, wie man sieht.“
Mein Kleid streifte seine nassen Pantoffeln. Ich drückte auf zwei weitere Lichtschalter, um ihm das Ausmaß seiner Schlamperei noch deutlicher vorführen zu können. Dadurch wirkte der Fleck – der Schaum war schon eingezogen – irgendwie verändert.
Opa verhielt sich Rücksicht nehmend. Er sagte gar nichts. Seine Stirnfalten hatten sich aber bedenklich vertieft. Dann griff er entschlossen die IKEA-Vase und nahm sie beiseite.
Nun war die dunkle Stelle plötzlich verschwunden. Es schien sogar, als sei jetzt der Teppich eben da deutlich heller als im ganzen.

Opas Handlung war von einer derartig impertinenten Bedeutsamkeit, so dass ich gezwungen war zu begreifen, dass ich dem Schatten der schönen, übergroßen Tulpe auf den Leim gegangen war, auf der der Schein der Korblampe geruht hatte.

„Jetzt kannst du dein Party-Kleid wieder ausziehen“, verstand ich noch verschwommen, weil Opa für sich aus dem Fernseher überlaut ein Fußballspiel übertrug und dabei leider nicht mehr nach rechts oder links sehen konnte.

Tschüß, bis bald!
Ich bringe das Abendkleid mit, wenn wir Euch besuchen kommen, damit Ihr auch einmal zu einem genussvollen Abend kommt.
Entspannung ist auch in Eurem Alter sehr wichtig.


Eure allzeit zufriedenen Eltern.

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